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Bundestags Mining – Teil 4

Beobachtung: mindestens zwei große Bereiche sind im Bundestag insgesamt massiv unterrepräsentiert: 1. nicht-Akademiker (Hausfrauen, Pflegekräfte, Handwerker) und 2. Akademiker mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt (Informatiker, Ärzte, Ingenieure)

Die Datenlage ist traurig eindeutig. Die Frage ist nur, wie kann man dem entgegenwirken? Zum ersten Punkt (Einbeziehung von nicht-Akademikern): Ich selbst habe während Jobs im Studium jeweils mehrere Jahre in der Gastronomie und in der Pflege gearbeitet. Warum? Weil ich musste. Was für mich damals eine existentielle Notwendigkeit war, ist im Nachhinein eine der wichtigsten Erfahrung meines Studiums. Nichts ersetzt die Erfahrung, sich – wortwörtlich – die Hände schmutzig zu machen, Tabletts zu schleppen, alte Menschen zu waschen. Wer solche praktischen Abläufe, egal ob in der Gastronomie, Logistik oder Pflege selbst ein paar Jahre mitmacht, wird ein anderes Verständnis dafür entwickeln, wie viel Anerkennung man „Machern“ (Handwerker, Pflegekräften aber auch Kleinunternehmern) entgegenbringen will und wie sehr man diesen durch Bürokratie und lebensferne Regelungen das Leben schwer macht. Es kann nicht sein, dass alleine deswegen schon so viele schwarz putzen oder kellnern, weil selbst für einen Kleinunternehmer der bürokratische Aufwand einer Steuererklärung so hoch ist, dass es sich jemand, der von der Hand in den Mund lebt, schlichtweg nicht leisten kann, sich darum zu kümmern. Oder dass der Traumjob als Altenpflegerin nach einer Scheidung alleine deshalb nicht mehr ausführbar ist, weil der Schichtdienst für Alleinerziehende wegen des fehlenden Betreuungsangebotes nachts und an Wochenenden absolut unvereinbar mit der familiären Situation ist.

Deswegen mein Appell an alle Berufspolitiker: lernt Leute aus diesem Milieu kennen. Also richtig. Damit meine ich nicht: sprecht mal drei Sätze mit eurer Putzfrau, sondern freundet euch mit ihr an und geht mit euren Kindern gemeinsam auf den Spielplatz. Oder noch besser: geht selber mal ein paar Wochen raus – ohne Presse – und macht euch die Hände schmutzig! Einen halben Tag mit Gummistiefeln durch das Ahrtahl laufen zählt nicht. Ganz ernsthaft: lasst mal 14 Tage alle Termine sausen und geht undercover für 10€ die Stunde putzen. Das wird euer Verständnis des Arbeitsalltags unserer Bevölkerung weiter bringen, als jede Umfrage und jede bei einem teuren Consulting-Unternehmen in Auftrag gegebene Analyse. Uns zu vertreten ist euer Job. Also ist es auch euer Job, uns zu verstehen. Und wenn ihr das zeitlich nicht hinbekommt: schickt wegnistens eure Kinder arbeiten. Also richtig „Arbeiten“, mit Hände schmutzig Machen und Kontakt zu nicht-Akademikern und so. Nicht für viel Geld auf ehrenamtliche, kirchenorganisierte weltverbesserer-Camps zum Brunnen Bauen nach Kenia, sondern einfach ganz banal in der Kneipe oder Fabrik um die Ecke. Vieles spricht dafür, dass eure Kinder wieder Juristen, Lehrer oder eben Bundestagsabgeordnete werden. In jedem dieser Fälle ist die Erfahrung, für ein paar Euro die Stunde für ganz praktische Arbeit den Rücken krumm gemacht zu haben, unbezahlbar.

Wenn wir schon nicht die Arbeiter in den Bundestag bringen, sollten sich die Bundestagsabgeordneten zumindest die Perspektive eines Arbeiters so unmittelbar und ungefiltert wie möglich vor Augen führen.

So viel zu ersten Punkt. Viel schöner, als selbst Erfahrungen im Arbeitermilieu zu machen, wäre es natürlich, Arbeiter im Bundestag sitzen zu haben. Schon klar. Aber wenn ich mir den Alltag der Pflegekräfte und Kellner ansehe, die ich persönlich kenne, halte ich es kaum für realistisch, dass diese Leute jemals die zeitlichen und finanziellen Mittel aufbringen könnten, sich selbst ins Parlament zu bringen. (Sollte das in einer Demokratie nicht eigentlich anders sein …? Meine Güte, stellt euch mal vor, war das für eine Welt wäre, in der *echte* Putzfrauen und Busfahrer einen Platz im Bundestag hätten!)

Zum zweiten Punkt (Einbeziehung von praxisnahen und naturwissenschaftlichen Akademikern): Ich selbst bin studierte Informatikerin und damit Vertreterin dieser Gruppe. Ich war noch nie parteipolitisch aktiv. Und das, obwohl ich politisch extrem interessiert bin. Mir geht es aber (wie vielen in meinem Freundeskreis) so, dass mir der ganze politisch Apparat so schwerfällig, überaltert, bürokratisch und korrupt vorkommt, dass es völlig „unwirtschaftlich“ scheint, sich hier zu engagieren. Die hoch qualifizierten und gesellschaftlich engagierten Menschen, mit denen ich alltäglich zu tun habe, arbeiten lieber in der freien Wirtschaft und spenden dann von dem dort verdienten Geld (oft nicht unerhebliche Summen) gezielt für das Projekt, das sie für unterstützenswert halten. Oder sie engagieren sich ehrenamtlich. Das kann auch in Form von kostenlosem Wissenstransfer etwa über digitale Plattformen wie Reddit, youtube oder wikipedia sein. Oder beim Chaos Computer Club.

Ich denke, ich muss hier nicht die Beispiele auflisten, in denen große Parteien genau diese Arbeit nicht nur abwerten, sondern auch aktiv unterbinden. Das kann ein arrogant-ignoranten Kommentar über das neuest Rezo Video sein oder die Tatsache, dass man Mitarbeiter des CCC lieber verklagt, als sich bedankt, wenn diese Sicherheitslücken aufdecken. Diese Aktionen seitens der Politik kosten uns nicht nur die Motivation der jungen Generation, selbst etwas zu bewirken, sondern werden mittelfristig auch wirtschaftlich massive Folgen zeigen, wenn wir international noch weiter technologisch und digital zurückfallen.

Auch hier mein Appell an die Politik: besetzt die Ämter mit Fachleuten. Und wenn das nicht geht: sprecht mit uns. Bezieht uns mit ein. Und bildet euch verdammt noch mal in diesen Bereichen fort. Wir leben in einer Zeit, in der nahezu jedes Wissen, von der Differentialdiagnostik seltener Krankheiten bis hin zum Training künstlicher Intelligenzen in Form von Neuronalen Netze im Internet kostenlos und in hoher Qualität zur Verfügung steht. Nutzt die Zeit, die ihr sonst mit Umfragewerten und Wahlkampagnen verbringen würdet, um euch zumindest Basiswissen in den Bereichen anzueignen, über die ihr hinterher im Bundestag entscheiden müsst.

Und: wenn ihr die Wahl habt, Ämter zu besetzen, greift doch bitte auf die (wenigen, aber sicherlich vorhandenen) zurück, die in diesen Bereichen eine Ausbildung und optimalerweise auch Berufserfahrung haben. Warum zum Teufel ist unser Gesundheitsminister kein Mediziner? Warum unsere Landwirtschaftsministerin keine Landwirtin? Warum unser Minister für digitale Infrastruktur kein Informatiker? Wie gering schätzt ihr die Komplexität dieser Fachbereiche ein, wenn ihr das wichtigste Amt in dem Bereich noch nicht mal mit einem Fachmann besetzt?

Und wenn ihr nicht gerade Minister seid, sondern nur Abgeordnete mit entsprechender Entscheidungsmacht: Bildet euch in den Bereichen weiter! Sprecht mit Ärzten, jobbt mal ein paar Tage mit auf einem Bauernhof, macht einen der unzähligen kostenlosen Programmiertutorials, um zu verstehen, worum es überhaupt geht!

Und: habt Respekt vor den Profis. Habt Respekt vor den Berufserfahrenen auf den Bereichen. Wenn ihr vor der Aufgabe steht, Millionen von Masken und Impfdosen zu bestellen, sprecht mit Logistikern, die sich mit dem Transport, der Lagerung und Kühlung von Ware im großen Maßstab auskennen. Wenn eine Hackerin eine Sicherheitslücke in eurer Wahlapp findet, hört ihr zu und lernt von ihr, wie man diesen Fehler in Zukunft vermeidet, statt sie zu verklagen. Und wenn ihr aus PR Gründen noch kurz vor der Wahl mit heiß gestrickter Nadel ein Buch auf den Markt bringen wollt … stellt zumindest eine 450€ Kraft an, die das Ding vorher mal durch einen Plagiatschecker laufen lässt 😉

Auch wenn der letzte Absatz mit etwas Augenzwinkern geschrieben wird, bleibt die Essenz doch: Bildet euch fort (auch in komplexen Themen, wie Medizin oder Informatik) und wenn ihr dabei merkt, dass sich euch die Themen nicht erschließen, überlasst die Entscheidung verdammt noch mal den Experten. Und damit sind nicht Consultants mit 4-Stelligen Tagessätzen gemeint, sondern diejenigen, die in diesen Bereichen schon selbst was geleistet haben – das kann ein Logistikfachmann sein, der schonmal Kühlketten im großen Stil organisiert hat, die Krankenpflegerin, die um die Problematik der Bürokratie bei der Erfassung von Pflegedokumentation weiß oder der Softwareentwickler, der schon mal eine App entwickelt hat und weiß, wie man sowas kosteneffizient und stabil umsetzt.

1 Kommentar

  1. THO

    Sehr schöne Abendlektüre, vielen Dank dafür!

    Das ist die Mischung, die mein Data Science Herz aufgehen lässt:
    – wie die Analysen immer aufwendiger werden, weil noch kurz Word Embeddings, ein Dashboard oder Regexe eingebaut werden sollen
    – wie der Perfektionismus durchkommt und immer noch erklärt wird, dass ja alles nicht sauber ist und was man alles noch zusätzlich machen könnte
    – wie gleichzeitig aber doch ganz viele verschiedene Themen integriert werden, in diesem Fall gesellschaftlicher Natur (gendergerechte Berufe, Anteil an Single-Haushalten oder oder oder)
    – und am Schluss irgendwie der rote Faden noch da ist und die Handlungsempfehlungen rüberkommen

    Und ja, ich hätte 1000e Ideen, wo man nochmal reinschauen könnte. Beispielsweise nimmt der Anteil der Personen in Erwerbstätigkeit in der Landwirtschaft nun auch in der Gesamtbevölkerung ab (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/242856/umfrage/bedeutung-der-landwirtschaft-nach-anzahl-der-erwerbstaetigen/), was aber sicherlich nicht gegen die These spricht, dass keine repräsentative Vertretung vorhanden ist. Und warum dürfen Politiker nach einer Scheidung nicht wieder verheiratet sein? Und wollen wir überhaupt lieber ältere PolitikerInnen, weil sie mehr Erfahrung haben, oder lieber jüngere und ledige NaturwissenschaftlerInnen, die anders denken? Vielleicht checke ich doch lieber nochmal die wahl-o-mat Analyse von David Kriesel, da gibt es zumindest nur endliche Optionen 😉

    Und ja: Warum gibt es eigentlich kein Python-Paket, das gendern kann? Gibt es nicht schon genug Texte, bei denen man die Wortneuschöpfungen rausziehen könnte? Mit *chen, Innen oder sonstwas? Mal auf die endlose Liste guter Ideen setzen, vielleicht kommt ja mal so richtig schlechtes Wetter …

    Aber auch aus technisch-finanziellem Interesse: Warum kostet dein Dashboard nur in ECR und nichts in ECS? Gibt es da keine Run Costs? Das Dashboard ist ja immerhin öffentlich erreichbar und nutzbar und der Container läuft doch bestimmt auch dauerhaft.

    Zum Schluss, completely unrelated, warum fehlt im Seitentitel und Footer das R? Das triggert mich 😉

    Also Danke nochmal, war schön zu lesen.

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